9. ETAPPE

St. Niklaus-Sion

Heute wollen wir parallel zum Rhonetal zurück in Richtung Sion. Da wir gestern Abend leider oben in Jungu keine Übernachtung mehr bekommen haben, müssen wir den Weg mit der Luftseilbahn nach oben heute am frühen Morgen bewerkstelligen. Hier an eine Auffahrt mit dem Bike zu denken ist völlig abwegig, da in den kleinen Ort oben auf dem Berg nur schmale Trails führen. Die Bikes werden von dem älteren Herrn, der die stündlich nur 1x fahrende Seilbahn bedient, mit einigen morschen Hanfseilen außen an den Gondeln verzurrt. Zum Glück haben wir selbst noch ein paar Spannriemen und eine Reepschnur dabei, so dass wir die Bikes guten Gewissens auf die Reise schicken können.

Die Auffahrt mit der Luftseilbahn nach Jungu ist ein Erlebnis der besondern Art. Hunderte von Metern über dem Abgrund sitzt man in einer winzigen Gondel mit nur 4 Sitzplätzen und schwebt über den Wald.

Kurz nach Jungu ist der Augstbordpass schön beschildert. Der Trail führt steil durch einen märchenhaften Lärchenwald nach oben. Die Bäume hier müssen jahrhundertealt sein. An Fahren ist nicht zu denken, daher sind wir schiebend und tragend unterwegs. Wir haben bereits knapp 200 Höhenmeter bewältigt, als Dave an der eingeschlagenen Route zweifelt. Immer wieder fragt er nach dem GPS Track. Diesen habe ich zu Hause am PC generiert, anhand einer selbst kalibrierten Karte. Dazu die Wegweiser. Klar, wir sind auf dem richtigen Weg zum Augstbordpass, jedoch nicht auf der geplanten Route. Als uns dies letztlich klar wird, ist es fast zu spät. Zu viel Zeit haben wir auf dem vermeintlich richtigen Weg verbracht. Immer wieder versperrt uns Nebel die Sicht. Gespenstisch die alten Bäume um uns herum. Dann die Klarheit: Wir hätten bereits in Jungu die Beschilderung ignorieren und uns zunächst weiter nach Norden halten müssen. Die Karte im GPS war ungenau kalibriert, zudem war der Zoomfaktor des Gerätes zu grob eingestellt. Egal, wir beschließen weiter auf dem eingeschlagenen Weg zu bleiben und die zusätzlichen Höhenmeter rund um den Berg Trära in Kauf zu nehmen. Jetzt lichtet sich der Nebel ab und zu und gibt kurz den Blick auf den Dom frei. Sein mächtiger Eispanzer dominiert den Horizont im Osten. Der Weg wird zusehends unwegsamer. Wo eben noch große Steinplatten zu einem fahrbaren Weg aufgeschichtet waren, ist bald nur noch grobes Geröll vorhanden.

No Flow

Wir tragen die Bikes auf den Schultern. Während Dave und ich mit den festen Bergstiefeln noch sicher gehen können, kämpfen Roland und Rolf zusehends mit dem unwegsamen Gelände. Und dann wieder der verdammte Nebel. Dann geht es wieder bergab im Geröll. An Fahren ist auch hier eigentlich nicht zu denken. Wir probieren es passagenweise dennoch. Einige Wanderer machen sich über unser Tun lustig. Sie seien schneller zu Fuß, als wir mit den Bikes. Nicht böse gemeint, aber irgendwie haben sie recht. Die Stimmung droht zu kippen. Warum diese Wegewahl? Warum sind wir vorhin nicht umgekehrt? Und wo zur Hölle kommen all diese Felsbrocken her. Galgenhumor macht sich breit, es muss an der inversen Schwerkraft liegen beschließen wir letztlich. Die tritt hier ab und zu auf, dann rollen all die Felsen aus dem Tal nach oben und versammeln sich hier, um den Weg so unwegsam zu machen. Die inverse Schwerkraft sollte heute Abend wieder zuschlagen, aber davon ahnen wir jetzt noch nichts. Besser so. Dann lichtet sich der Nebel, auch besser, oder eben nicht? Wir sehen den an der anderen Talseite gemütlich nach oben laufenden Trail…ohne Felsgewirr und sinnloses rauf und runter Zerren der Bikes. Das wäre unsere geplante Aufstiegsroute gewesen. 10 Minuten später ist die Weggabelung erreicht. Ab hier geht es leichter bergan, das Gelände wird einfacher, der Untergrund besser begehbar. Wir rasten kurz und brechen bald auf, den Rest des Anstieges zu bewältigen. Das Wetter bessert sich zusehends, der Nebel hat sich größtenteils verzogen. Es scheint die Sonne.

Kurz vor dem Augstbordpass wird das Gelände nochmals etwas flacher. Wir können einige wenige Meter fahren, ein Schafherde flüchtet vor uns. Dann der steile Schlußanstieg. Nochmals geht es knapp 250 Höhenmeter in schmalen Serpentinen bergauf. Dave geht wie immer voran. Ich versuche mit allen Kräften Schritt zu halten, aber es gelingt mir einfach nicht, ihm mit seinem abnormen Steigtempo zu folgen. Als er den Pass erreicht, bin ich wieder um 2 Serpentinen hinter Dave zurück gefallen. Oben weht ein eisig kalter Wind. Hinter Felsen gekauert ziehen wir die warmen Jacken an und schnallen die Protektoren um.

Wir blicken gen Westen in Richtung Meidpass. Irgendwo zwischen den ganzen Zacken am Horizont ist der nächste Übergang versteckt. Was sich davor befindet beruhigt uns aber zusehents: Eine Schotterpiste führt weit nach oben zu einer Alm. Wir werden dort die Bikes nicht wieder 950 Höhenmeter nach oben schleppen, wie wir es soeben am Augstbordpass tun mussten.

Aber die Schinderei hat sich gelohnt und wir werden mit einer traumhaften Abfahrt belohnt. Ich könnte an dieser Stelle abermals von verblockt, technisch anspruchsvoll, flowig, holy, lohnend und einfach nur schön erzählen. Ich erspare dies dem Leser dieses eine Mal und gehe gleich zum Abschluss über: Der Trail führt bis ins Tal, den Schotterweg weiter unten kreuzen wir natürlich nur und schließlich endet der Trail direkt im Biergarten des Hotel Schwarzhorn. Wir können direkt von den Bikes auf die Bierbänke umsteigen und schnell ist eine Portion Spagetti bestellt. Dies wurde auch mal wieder Zeit, da wir inzwischen ziemlich ausgehungert waren. Hier unten im Tal scheint die Sonne und es ist bedeutend angenehmer als auf dem zugigen und kalten Augstbordpass.

Die Auffahrt zum Meidpass bewältigen wir zunächst angenehm steigend auf Schotter. Der Blick ans Ende des Turtmanntales ist beeindruckend. Das 4506 Meter hohe Weisshorn mit seiner mächtigen schneebedeckten Nordflanke bildet hier den Talabschluss.
Der Schotterweg führt hinauf bis 2340 m bis zur Oberen Staffelalm. Danach geht es weiter auf einem Trail. Dieser ist teilweise fahrbar und führt entlang von Seen und über manchmal sumpfige Almwiesen zum Pass. Alles in Allem bewältigen wir in knapp 2 Stunden die etwas langwierige Schiebepassage durch das wellige Gelände. Dann begegnen wir jemandem, mit dem wir hier oben eigentlich nicht gerechnet haben: einem Mountainbiker. Aus der Ferne wundern wir uns zunächst, warum er den doch gar nicht so schweren Trail hinab schiebt, dann wird uns klar warum: Er hat an seiner Federgabel Satteltaschen montiert. Wir begegnen ihm schließlich und kommen ins Gespräch. Er ist vor einigen Tagen in Verbier gestartet und führt eine komplette Outdoorausrüstung inkl. Zelt, Kocher und Isomatte mit sich. An technischen Abfahrten hat er keinerlei Interesse und genießt stattdessen beim langsamen und gemütlichen Schieben die eindrucksvolle Landschaft. Wir verabschieden uns und nähern uns den letzten 200 hm Tragestück zum Pass. Die Landschaft hier ist völlig anders als an dem heute Vormittag überwundenen Augstbordpass. Ein anderes Gestein, wesentlich zerklüfteter Fels und eine offene von flachen Senken durchsetzte Topografie. Nur eines ist gleich geblieben: wieder dieses Geröll, diese Steine. Inverse Schwerkraft, alles klar!

Dann endlich sehen wir den Meidpass aus der Nähe. Die letzten Meter überwinden wir auf einem schmalen Pfad. Der Untergrund ist locker, der Übergang ähnelt einem riesigen Schotterberg. Oben angekommen ist es wieder extrem kalt und windig. Gerade eben wird der Wegweiser oben auf dem Pass erneuert. Die Mitglieder des örtlichen Wandervereins sind ziemlich erstaunt darüber, hier oben auf 4 Biker zu treffen und machen sogar ein paar Fotos von uns neben den soeben aufgestellten Schildern. Dann beginnt die Abfahrt, der lockere Untergrund erfordert eine perfekte Dosierung der Bremsen, schließlich wollen wir bei unserer Befahrung keinerlei Spuren hinterlassen. Mit dem Versetzen des Hinterrades in den Kehren gelingt uns dies trotz des schwierigen Terrains ganz gut. Bald haben wir den Felsbereich verlassen und fahren fortan auf flowigen Almwiesentrails ab. Einzelne kleine Felsbrocken laden zum Springen ein. Wir queren noch ein, zwei Bäche. Zum zweiten Mal kommen wir heute in den Genuss einer Abfahrt, die noch besser ist als wir uns es je hätten wünschen können. Schließlich erreichen wir nach fast 800 Höhenmetern Abfahrt einen Schotterweg. Dieser führt uns auf einer Höhe von 2200 Metern vorbei an St. Luc nach Chandolin. Zumindest fast, denn bei Pardi Modzes begehen wir einen folgenschweren Fehler. Statt auf dem Schotterweg direkt abzufahren, wollen wir auf dem am Hang entlang laufenden Trail weiterfahren. Dies wäre prinzipiell auch kein Problem, aber nach einigen schönen Metern beginnt der Trail ruppiger zu werden. Zudem ist er immer wieder mit widerlichen Gegenanstiegen und unfahrbaren, verblockten Passagen gespickt. Inzwischen ist es spät geworden, wir haben nichts mehr zu trinken und kommen nur sehr langsam voran. Während Dave und ich auf den technisch höchst anspruchsvollen Abfahrtspassagen noch Spaß daran haben, diese fahrend zu bewältigen, sind Rolf und Roland schon längst dazu übergegangen den Weg komplett zu schieben. Kurz vor Chandolin bessert sich der Wegzustand erheblich und wir können die letzen 2 km auf einem flowigen Abschnitt nochmals genießen.

Inzwischen ist es spät geworden, fast 18.00 Uhr. Wir wollten eigentlich spätestens um 20.00 Uhr in Sion sein. Dazwischen liegen noch eine Trailabfahrt und mindestens 25 km Straße. Und Wasser finden wir auf Anhieb auch keines. Dann wird es hektisch, die Abfahrt nach Fang ist beschildert. Wir fahren los, das Schild weist nach links, eine steile Holztreppe, abwärts, inverse Schwerkraft. Shit, die Treppe kommt auf mich zu, ich strecke die Arme nach oben, lande mit gestrecktem Arm zuerst. Überschlag, dann kommt das Bike und erschlägt mich fast von hinten. Dave kann hinter mir gerade noch stoppen. Rolf und Roland stehen kopfschüttelnd oben an der Treppe. Ich raffe mich auf, schleppe mich und mein Bike wieder nach oben. OK,der Weg muss auch außen herum gehen. Die Teerstraße führt in Serpentinen durch den Ort und kreuzt den Wanderweg sicher noch einmal. Wir kommen an einem Brunnen vorbei.

Erst jetzt bemerke ich, dass mein linker Arm beim Sturz doch etwas abbekommen hat. Aber wir haben keine Zeit uns lange darüber Gedanken zu machen. Es geht in den Trail. Er macht Spaß, ist gut zu fahren, zumindest theoretisch. Ich kann die Vorderbremse nicht mehr bedienen, jeder Schlag vom Untergrund verursacht höllische Schmerzen im Unterarm. Ich befürchte das Schlimmste: ein Armbruch. Irgenwie mogle ich mich durch den Trail. Ich kann nur noch hinten bremsen, zumindest kurze Zeit. Dann glüht die Scheibe, Fading, ich rolle in einer Linkskehre einfach geradeaus. Es hat keinen Wert mehr. Ich schiebe abwärts, flache Passagen lasse ich das Bike rollen, dann versuche ich wieder zu fahren…bis die nächste ruppige Passage wieder höllische Schmerzen induziert. So jetzt ist Schuss. Ich lade den Rucksack ab, suche mir ein Stück Holz und bastle mir mit meiner Reepschnur eine provisorische Schiene an den Arm. Meine Begleiter schütteln ungläubig den Kopf und halten mein Tun für ziemlich abwegig. Aber die Sache hilft, ich kann die restliche Abfahrt fahrend bewältigen und gelange so halbwegs sinnvoll ins Tal.

Die restlichen Kilometer durch das enge und schöne Val d´Annviers legen wir auf der Straße zurück. An einer weiteren Trailsuche habe zumindest ich heute keinerlei Interesse mehr. Mir wäre ein Krankenhaus gerade lieber. Dann muss ich noch einmal stoppen. Die Verschnürung meines Armes führt zu einem Blutstau, die Hand wird pelzig. Ich entferne die notdürftige Schiene wieder und hänge den Arm im Rucksackriemen ein. Weiter geht es hinab nach Sierre, es ist 19.00 Uhr. Ich überlege kurz hier schon ein Krankenhaus aufzusuchen, beschließe aber doch noch bis Sion weiter zufahren. Auf der Hauptstraße geht es bei widerlichem Gegenwind in Richtung Westen. Dave fährt voraus und sorgt für Windschatten. Nach 15 Kilometern gegen den Wind haben wir Roland und Rolf verloren, sie konnten das Tempo von Dave nicht mithalten. Um 19.38 Uhr erreichen wir schließlich Sion. Doch wo ist ein Krankenhaus? Wir entdecken ein H Symbol auf einem Verkehrsschild, folgen diesem und irren in irgendwelchen Vororten herum. GPS? Fehlanzeige. In der rudimentären Basismap sind keinerlei Informationen hinterlegt. Das Nachfragen bei einigen Passanten führt uns nicht weiter. Eine Infotafel mit Stadtplan führt uns weg vom eigentlichen Ziel, hin zu einer am Sonntagabend eh geschlossenen Ambulanz. Schließlich wird mir die Sache zu bunt. Ich habe Hunger, bin verschwitzt und will mein Bike in einer sicheren Garage statt in irgen deinem Krankenhausflur verstaut wissen. Daher beschließe ich nun doch die bereits gebuchte Pension in dem nur 6 km entfernten Ort Vétroz anzufahren.

Dort angekommen finden wir auch Rolf und Roland wieder. Wir lassen den Abend mit Raclette und reichlich Rotwein ausklingen. Schnell sind die Schmerzen betäubt, Rotwein ist heute, Krankenhaus kann bis morgen warten…

Fazit:

Das hätte eines der schönsten Biketage mit unglaublichen Abfahrten, einzigartiger Landschaft und alpiner Abgeschiedenheit werden können, wenn ich von diesem unsäglichen und völlig unnötigen Sturz am Abend verschont geblieben wäre.
Alle Fotos von Tag 9

Unterkunft:

Madame Chantal Schroeter, chambre d’hôte
Rue de la Madeleine 7
1963 Vétroz
+41(0)27 346 58 40, mobile +41 (0) 76 348 13 36
e-mail : chantalschroeter@hotmail.com
www.bnb.ch

Route:

St. Niklaus
Jungu
Augstbordpass
Gruben
Ob Stafel
Meidpass
Schotterweg
Chabdolin
Fang
Sion